Für die Eisenbahner soll es weder Inflationsausgleich noch Corona-Prämie geben, erläutert CLAUS WESELSKY, der Vorsitzende der GDL, im Gespräch mit Winfried Wolf
Frage 1:
Die Urabstimmungsergebnisse liegen vor. Wie interpretieren Sie und der GDL-Vorstand diese; entsprechen sie Ihren Erwartungen? Und: Gibt es interessante Unterschiede in einzelnen Bereichen, in denen die Urabstimmung stattfand?
Schon der hohe Rücklauf an Abstimmungsunterlagen, aber auch die deutlichen Signale aus der Belegschaft haben bereits im Vorfeld eine hohe Zustimmung zum Arbeitskampf erwarten lassen. Das nun erzielte Ergebnis von 95 Prozent übertrifft unsere Erwartungen, bestätigt aber zugleich das herrschende Stimmungsbild unter den Eisenbahnern. Die direkten systemrelevanten Beschäftigten sind wütend und frustriert angesichts eines DB-Managements, das ihnen weder einen Inflationsausgleich noch eine Coronaprämie zugesteht, während sich die Führungskräfte im Homeoffice weiterhin ungerührt die Taschen füllen. Sie haben in 2021 51 Prozent Boni erhalten, trotz miserablem Finanzergebnis des DB-Konzerns. Diese variablen Vergütungen zusätzlich zum ohnehin schon üppigen Fixgehalt übersteigen trotz der Halbierung immer noch das gesamte Jahresgehalt eines wertschöpfend tätigen Eisenbahners. Das ist unanständig, unsozial und eine Verhöhnung der Menschen, die während der Pandemie unter erschwerten Bedingungen tagtäglich den Kopf hingehalten haben. Gemessen an der Stimmung in der Belegschaft könnten wir schon lange im Streik sein und der Streik selbst kann gar nicht lange genug dauern.
Frage 2:
In den Medien heißt es immer wieder: Die Forderungen der GDL seien „unverhältnismäßig“. Dabei wird mal auf die Corona-Krise und den Einbruch bei den Fahrgästen verwiesen. Neuerdings werden auf die Hochwasserschäden der Deutschen Bahn ins Spiel gebracht. Woran orientiert sich die GDL bei ihren Forderungen?
Unsere Forderungen orientieren sich am Tarifabschluss im öffentlichen Dienst. 1,4 Prozent Entgelterhöhung und 600 Euro Corona Prämie 2021, 1,8 Prozent 2022 und das alles über eine Laufzeit von 28 Monaten sind maßvoll und gerechtfertigt. Die GDL lässt nicht zu, dass die systemrelevanten Eisenbahner mit einer Null- oder Minusrunde abgespeist werden. Außerdem gilt es, die kleinen Betriebsrenten zu schützen. Wir lassen sie uns nicht als Volumen anrechnen. Die Zusage dieser Betriebsrente ist bei der Einstellung erfolgt und niemand hat das Recht, sie zu kürzen oder gar einzustellen.
Frage 3:
Der Arbeitgeber Deutsche AG stellt sich als arm wie eine Kirchenmaus dar. Es gäbe hier keine Ressourcen zur Befriedigung der GDL-Forderungen.
Das ist nur eine weitere Schutzbehauptung, mit der die DB vom eigenen Versagen ablenken will. Die DB hat ihre Bilanz 2020 mit einem Minus von 5,7 Milliarden Euro nach Steuern abgeschlossen, der Umsatz sank gegenüber dem Vorjahr um mehr als zehn Prozent auf 39,9 Milliarden Euro. Sie behauptet, das Minus sei eine unausweichliche Folge der Corona-Pandemie, weil deutlich weniger Fahrgäste mit der Bahn unterwegs gewesen seien. Doch tatsächlich ist der größte Teil der Misere hausgemacht. Die wahre Ursache für die fehlenden Milliarden sind Leuchtturmprojekte in Deutschland wie Stuttgart 21, weltweite Einkaufstouren, mit denen sich der DB-Vorstand schon oft verzockt hat, wie die milliardenschwere Übernahme des Bahnkonzerns Arriva sowie ein grotesk aufgeblähter Verwaltungsapparat. Die Abenteuerspielplätze auf der ganzen Welt, versteckt unter dem Oberbegriff Beteiligung/Sonstiges, erzeugten allein in der Bilanz 2020 einen finanziellen Verlust von mehr als 1,5 Milliarden Euro. Schon mit einem Bruchteil dieser Summe könnte man den Mitarbeitern das zukommen lassen, was ihnen nach Verdienst gebührt.
Frage 4:
Es gab in den letzten zwei Jahrzehnten mehrere – erfolgreiche – Arbeitskämpfe. Derjenige von 2007/2008 hat nach Aussage des damaligen Bahnchefs Hartmut Mehdorn auch dazu beigetragen, dass der Bahnbörsengang geplatzt ist. Welche Bedeutung haben diese für den aktuellen GDL-Arbeitskampf? Was ist 2021 anders als beispielsweise 2014/2015?
Seit wir unsere ersten eigenständigen Tarifverträge mit der DB im März 2008 abgeschlossen haben, hat sich so gut wie nichts geändert. Wir kämpfen stark, unbestechlich und erfolgreich für bessere Entgelt- und Arbeitsbedingungen unserer Kollegen. Dass unsere Mitglieder das Herz am rechten Fleck haben und solidarisch sind, das haben die Ergebnisse der Urabstimmung erneut gezeigt. Sie sind unser größtes Pfund, ohne sie läuft gar nichts. Auch, dass die DB am liebsten allein mit ihrer braven Hausgewerkschaft die Tarifverträge aushandeln möchte, ist nicht neu. Hat diese sich doch immer mit niedrigeren Abschlüssen abspeisen lassen.
Eine neue Waffe der DB ist jedoch das Tarifeinheitsgesetz (TEG). Scheinheilig behauptet die DB, sie könne als gesetzestreuer Arbeitgeber gar nicht anders, als das Tarifeinheitsgesetz anzuwenden. Das ist reine Heuchelei. Natürlich erkennt die GDL das TEG und seine faktischen Auswirkungen an. Doch so tendenziös, wie der Arbeitgeber die Tarifeinheit gegen die GDL-Mitglieder richtet, ist deren Anwendung nicht rechtens. Unter bewusster Falschauslegung der TEG-Regelungen will sie die einzig kritische Gewerkschaft im Eisenbahnmarkt vernichten. Das mutwillige und sachfalsche Herunterrechnen der GDL-Betriebe im DB-Konzern auf 16 gegenüber 55 EVG-geführten Betrieben ist hierbei nur die Spitze des Eisbergs.
Frage 5:
Mitte Juli brachte die Deutsche Bahn AG neu das Angebot – Scheinangebot – ins Spiel, eine Absprache wie 2015 sei möglich, bei der das Tarifeinheitsgesetz keine Anwendung findet. Ist das realistisch?
Auch das läuft unter der Überschrift „Tricksen, Täuschen, Taschen füllen“. Bereits im Februar 2021 haben wir mit DB-Personalvorstand Martin Seiler die Frage einer trilateralen Vereinbarung ausgelotet. Die EVG hatte gleich abgewunken. Trotzdem haben wir uns am 25. Februar über mehrere Stunden die Bedingungen angehört, die uns die DB als Tarifvertragspartei gestellt hat. Anschließend haben wir Herrn Seiler eine klare Absage erteilt, denn ein Verzicht auf die Gestaltung der Arbeitszeitbedingungen für das Zugpersonal und eine vertraglich fixierte Abhängigkeit von der Zustimmung der EVG und/oder der DB AG ist gleichzusetzen mit der Abgabe unserer Tarifautonomie am Garderobenhaken. Also war die Scheinofferte im Juli 2021 nichts anderes als alter Wein in neuen Schläuchen. Dem Lügenbaron geht es in erster Linie darum, in der Öffentlichkeit ein verzerrtes Bild von uns zu erzeugen, was ihm allerdings immer schlechter gelingt.
Wir haben schriftlich mitgeteilt, dass die TEG-Frage nicht Gegenstand der Tarifauseinandersetzung ist. Hier geht es um mehr Einkommen und den Schutz der Betriebsrente. Erst nachdem wir den Tarifkonflikt erfolgreich bewältigt haben und der Kompromiss mit der DB in neuen Tarifverträgen für alle systemrelevanten Berufe verankert wurde, ist der Zeitpunkt für eine echte Tarifkollision gemäß TEG gekommen. Erst dann macht es Sinn, nochmals auszuloten ob trilateral überhaupt etwas geht. Bis dahin haben wir hoffentlich auch eine gerichtsfeste Form der Mehrheitsfeststellung in den einzelnen Betrieben. Dann wird sich zeigen, wer in welchem der insgesamt 174 Betriebe im Eisenbahnsystem in Deutschland die größere Anzahl an Mitgliedern hat. Dabei zählen nur Fakten, keine Wunschvorstellungen der EVG oder der DB.
Frage 6:
Die GDL kündigte Anfang 2021 an, bei der Gewinnung von Mitgliedern sich nicht mehr nur auf die Bereiche Lokführer und das übrige fahrende Personal wie Zugbegleiter und Gastrobeschäftigte zu beschränken. Was sind die Gründe für diese Neuorientierung – und welche Ergebnisse gibt es dabei bisher?
Schon lange wollen auch Mitarbeiter in den Werkstätten und den Leitstellen Mitglied bei uns werden, obwohl wir bis Herbst letzten Jahres gesagt hatten, dass wir für sie keine Tarifverträge schließen können. Jetzt ist der beste Zeitpunkt für eine Erweiterung unseres Organisationsbereichs, denn das direkte Personal will sich nicht länger mit Almosen abspeisen lassen, während sich die Führungskräfte die Taschen vollstopfen. Und unsere 3 000 Neumitglieder seit vergangenem Jahr sind dafür die beste Bestätigung. Wenn die DB eben nur mit nur einer Gewerkschaft im Betrieb den Tarifvertrag schließen will, dann sollte das schon die GDL sein.
Frage 7:
Die STREIKZEITUNG wird in erster Linie von Leuten gemacht, die Mitglieder in DGB-Gewerkschaften sind. Ich bin beispielsweise seit Jahrzehnten Mitglied in Verdi (früher ÖTV; dabei immer auch Mitglied im VS). Gleichzeitig richten wir uns mit dieser Publikation besonders an Aktive in den DGB-Gewerkschaften und werben für Solidarität mit der GDL. Was ist da eure Botschaft?
Gewerkschaftsmitglieder wollen, dass ihre Interessen zielgenau von einer starken, unbestechlichen erfolgreichen Gewerkschaft vertreten werden. Das geht nur mit einem hohen Organisationsgrad und standhaften, solidarischen Mitgliedern. Diese bekommt man nicht geschenkt. Wir müssen unseren Mitgliedern jeden Tag aufs Neue zeigen, dass wir ihre Probleme in der Arbeitswelt kennen, sie ernst nehmen und alles tun, damit sie bessere Entgelt- und Arbeitsbedingungen bekommen. Das Wichtigste ist: Wir schätzen unsere Mitglieder, erfassen ihre Probleme und Nöte, setzen diese in Tarifforderungen um und drücken diese dann auch wirklich durch. Das schätzen sie an uns. Die vorausgegangenen erfolgreichen Kämpfe der GDL haben gezeigt, dass von diesen positive Auswirkungen auf den gesamten Bereich der lohnabhängig Beschäftigten ausging. Insofern ist unser Kampf auch ein solcher, der allen Bahnbeschäftigten und darüber hinaus allen gewerkschaftlich Aktiven zu Gute kommt. Umgekehrt ist für uns die Solidarität, die uns aus anderen Bereichen entgegengebracht wird, wichtig.